Auch wenn die ländlichen Regionen der iberischen Halbinsel noch nie besonders besiedelt waren, kam es in den 1950er und 1960er Jahren zu einem regelrechten „éxodo rural“ (Del Molinos 2019). Über die gesellschaftliche Bedeutung dieser Landflucht in der Franco-Zeit hat der Journalist und Schriftsteller Sergio del Molinos ein einflussreiches Buch geschrieben. Der Titel La España vacía. Viaje por un país que nunca fue (2016) ist mittlerweile zu einem geflügelten Wort in der Debatte um die spanische Bevölkerungsverteilung geworden. Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse hat Peter Kultzen das Werk ins Deutsche übersetzt: Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab ist jüngst im Wagenbach Verlag erschienen und wird für den FID Romanistik beschafft.
Als Del Molinos im Frühjahr 2016 seinen Essay La España vacía veröffentlichte, brachte er das Thema damit auf die Titel der Tageszeitungen in Spanien. Er machte auf eine die spanische Besonderheit aufmerksam, dass große Teile des Landes praktisch menschenleer sind: „Drei Viertel der Einwohner konzentrieren sich auf Madrid und die Städte entlang der Küste“, wie es im DLF-Interview zur Bucherscheinung hieß (Link):
Die ländlichen Gegenden auf der iberischen Halbinsel waren noch nie dicht besiedelt. Doch zwischen 1950 und 1970 vollzog sich ein regelrechter Exodus. Dieser war nicht zuletzt das Ergebnis einer rücksichtslosen Industrialisierung unter Franco. Während sich die Einwohnerzahl vieler Städte verdoppelte und verdreifachte, entleerten sich die übrigen Gebiete fast vollständig. Rund 75 Prozent der Menschen leben heute im Großraum Madrid und in den urbanen Zentren entlang der Küste. (ebd.)
Del Molinos weist nicht nur auf diese massiven Migrationsbewegungen ins Urbane hin, er bietet damit auch einen weiteren Erklärungsansatz für bestimmte Besonderheiten der spanischen Bevölkerung:
Die Migranten der ersten Generation haben all ihre Traditionen und Bilderwelten in die Städte mitgebracht. Dieses kulturelle Erbe wurde zu einem Phantom, weniger verbunden mit dem Land, sondern mehr mit der Imagination. Diese Vorstellungen von einer Welt, die verschwunden ist, umgeben uns. Wir haben sie geerbt und transformiert. (ebd.)
In der Vorstellung der bürgerlichen intellektuellen Stadtbevölkerung betrachtete die ländlichen Regionen hingegen vielmehr als rückständig und lächerlich. „Cervantes hat La Mancha erfunden. Für ihn war La Mancha ein Witz. Er hat bestimmt, wie die Spanier noch bis vor Kurzem auf das leere Spanien geblickt haben“ (ebd.). Das Konzept eines leeren Spaniens wird seit dem auch als Erklärungsversuch für das Aufkommen der rechtsextremistischen Partei Vox herangezogen. Del Molinos hat sich mit seinem Essay „Contra la España vacía“ (2021) selbst in die Diskussion um die Buchrezeption seines eigenen Werkes eingemischt.
Literatur von und über Sergio del Molinos finden Sie im Katalog des FID Romanistik.