Ein Gastbeitrag von Gabriella-Maria Lambrecht (DHWB Heilbronn / Universität Würzburg) zum Tag der rumänischen Kultur am 15. Januar.
Wir wurden von Typen wie Ceaușescu nun mal eingesperrt, wie Tiere gehalten. Das muss man immer wieder erwähnen, immer wieder davon erzählen. (Cristian Mungui, Regisseur)
Das Ende der Ceaușescu-Diktatur 1989 bedeutete natürlich das politische Ende des sozialistischen Systems in Rumänien und zugleich auch einen Wechsel des sozialen, ökonomischen und historischen Diskurses. Dabei gibt das Ende des sozialistischen Rumäniens vielfach Anlass zu erinnern und sich damit dem Vergessen an die bio-politische Übermacht des ehemaligen Regimes zu entziehen. Genau dies leisten rumänische Filme seit den 2000er-Jahren in einer Schleife, die die stetige „Wiederkehr des Verdrängten“ geradezu ermahnend heraufbeschwören!
Erschreckend und eindrucksvoll stellt dies der Film 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage (4 luni, 3 săptămâni și 2 zile) zur Schau, bei dem der 1968 im rumänischen Iași geborene Christian Mungiu Regie und Produktion übernahm. Der Film thematisiert die Folgen und Konsequenzen des rigiden Abtreibungsverbotes 1987 in Rumänien (und zeugt damit auch von ungeahnter wie auch ungewünschter Aktualität). Der Plot: Die Studentin Găbița sieht keinen anderen Ausweg als eine illegale Abtreibung durch einen zwielichtigen Gynäkologen, der sich als „Engelsmacher“ vorstellt, anonym in einem Hotelzimmer. Der Gynäkologe besteht darauf, die Abtreibung erst vorzunehmen, nachdem er Găbița missbraucht hat. Ihre Freundin Otilia, die mitinvolviert ist und ebenfalls dem Missbrauch zum Opfer fiel, bricht kurz nach dem Akt zur Geburtstagsfeier ihrer Schwiegermutter auf und lässt Găbita zurück. Eindrucksvoll entsetzend sind die Totalen, in denen zuerst die Mutter auf dem Bett liegend und kurz darauf der ausgestoßene Fötus auf dem kalt wirkenden türkisgrünen Fußboden präsentiert sind. Fünf Sekunden, die durch die Sterilität des Raumes ins Unendliche gedehnt werden.
Obwohl der Film die Ceaușescu-Diktatur nicht explizit thematisiert, ist es doch eine Abrechnung mit der Politik des Regimes, insbesondere mit ihrer Biopolitik. Gleich wenn Michel Foucault sich in seinen Überlegungen in Sexualität und Wahrheit: Erster Band – Der Wille zum Wissen (1977) insbesondere auf die Entwicklung des Kapitalismus aus der „Macht zum Leben“ heraus bezieht, treffen seine Beschreibungen nicht minder auf das Ceaușescu-Regime und die Konsequenzen für die Bürger:innen des Staates zu: Bereits 1966 erließ Ceaușescu das sogenannte „Dekret 770“, das Kontrazeptiva von den Regalen verschwinden ließ und Abtreibungen verbot. Ziel dessen: Die Bevölkerungsanzahl innerhalb weniger Jahre um etwa 20% zu steigern (von ca. 23 Mio. auf 30 Mio.) und damit eine neue sozialistische Generation im Sinne des Regimes heranzuziehen. Während Foucault davon spricht, dass im Kontext der Biomacht „die alte Mächtigkeit des Todes, in der sich die Souveränität symbolisierte, […] nun überdeckt durch die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische Planung des Lebens [wird]“ (Foucault, 1977, S. 166-167), traf während der Diktatur Ceaușescus wohl beides zu – der Wunsch nach souveräner Macht und die faktisch gelebte Biopolitik. Sie führten zu – so die Schätzungen – etwa 11.000 toten Frauen bei illegalen Abtreibungsversuchen.
Dass Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile in keiner Szene des Filmes einen direkten Hinweis auf die Diktatur gibt und den Film damit nicht direkt historisch verortet, ist auch überhaupt nicht nötig: Sowohl die Thematik des Films selbst als auch dessen Auswirkungen auf das Leben der in Rumänien geborenen Generationen seit 1966 sind Teil des kollektiven Gedächtnisses, dessen diskursiver Macht man sich nicht zu entziehen mag: das Verdrängte holt spätestens mit diesem Film wieder ein. Er zeichnet sich damit als Erinnerungsort aus – für die Schrecken der Vergangenheit, der Geheimpolizei Securitate, für schätzungsweise über 10.000 tote Frauen, Kinder in Waisenhäusern.
Dabei ist Mungius Film geradezu exemplarisch für die Aufarbeitung einer Vergangenheit, deren Prozess bei weitem noch nicht abgeschlossen ist und für einige Teile der Bevölkerung noch zu nahe an der Gegenwart zu sein scheint, um zur Vergangenheit zu gehören.
Auch Cristi Puiu handelt in seinen Filmen immer wieder das Verhältnis von Gegenwart und Sozialismus aus, zuletzt in seinem Familiendrama Sieranevada: Auf einer Bukarester Familienfeier, die zugleich Trauerfeier für den Familienpatriarchen Emil ist, stoßen Ideologien, Vorstellungen und Erinnerungen dreier Generationen zwischen traditionellen Krautwickeln und dem Versuch, der eigenen Geschichte habhaft zu werden, aufeinander. Beinahe drei Stunden lang streiten sich Familienmitglieder über das Leben, die Politik, Verschwörungstheorien und Untreue in der Familie. Während Mungius 4 luni in äußerst ernstem Ton die Historie direkt ins Zentrum des Geschehens setzt, thematisiert Puiu die Auswirkungen sowohl des Sozialismus als auch den radikalen System-Umbruch auf die Bevölkerung und deren Identität heute: Er platziert dabei eine nach wie vor den Sozialismus idealisierende alte Tante mit einem Militäroffizier der post-sozialistischen Generation, Verschwörungstheoretikern und einem Priester an einem Tisch und lässt diese über die Vergangenheit in Rumänien, die Kindheit im Kommunismus und 9/11 lebhaft streiten.
Niemand würde dabei auf die Idee kommen, überhaupt an eine Art der Leitkultur zu denken, die sich hier entwickeln könnte – im Gegenteil: auf tragikomödiantische Art zeigt Puiu das Dilemma auf, verankert in einer ideologisch zerrütteten Familie um eine kollektive Erinnerung zu kämpfen. Während die einen versuchen, die Wiederkehr des grauenvollen Schattens der Vergangenheit weiter zu verdrängen, schwören die anderen eben diese zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte herauf. Der Informationsoffizier Relu kommentiert treffend die Schrecken, die ihn bis in den Schlaf verfolgen, weil seine Generation die historische Wahrheit verdrängt hat.
Es lassen sich noch etliche weitere eindrucksvolle Beispiele des rumänischen Films im 21. Jahrhundert nennen, die sich dem Versuch der Etablierung eines gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses verschreiben, so etwa auch Radu Munteans Das Papier wird blau sein (Hârtia va fi albastră, 2006), oder Der Tod des Herrn Lazarescu (2005). Mit Radu Judes Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen (Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari, 2018) kehrt das lang Verdrängte in neuer Gestalt wieder: Der Film handelt Rumäniens Mitschuld am Holocaust aus, mit besonderem Augenmerk auf das Massaker von Odessa 1941.
Die Filme der Noul val românesc (neue rumänische Welle) leisten im Hinblick auf die rumänische Geschichte einen essentiellen Beitrag, in dem sie das anstoßen und buchstäblich vor Augen führen, was viele Menschen – gleich welcher Nationalität sie sind und in welcher Diktatur sie gelebt haben – nach wie vor beschämt, entsetzt oder zu Verdrängung führt: der Blick auf die eigene Geschichte, die Vergangenheit und das Leben der eigenen Familie und damit die eigene Identität.
Abbildungen:
Cristian Mungiu (Cannes 2012): Zff.com
4 months: Slant Magazine
Sieranevada: Cinemagia
Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen (Îmi este indiferent dacă în istorie vom intra ca barbari, 2018): Cinemagia