Jorge Luis Borges und Genf: Eine Spurensuche

Am 14. Juni jährt sich der Todestag von Jorge Luis Borges, sein Geburtstag am 24. August zum 110. Mal. An dem Ort, wo Borges‘ Leben sein Ende fand, nahm die Biblioteca de Babel ihre virtuelle Gestalt an. Anlass für eine Spurensuche.

¡Por fin! Nur der Hilfe eines älteren Ehepaars haben wir es zu verdanken, dass wir nach einer vergeblichen Suche, die dem Durchlaufen eines Labyrinths ähnelt, den Weg zu Borges‘ Grab finden. Ausgerechnet die Suche im Web lenkte uns auf den falschen Friedhof, von dem uns das freundliche Ehepaar auf der Rückbank ihres Wagens mitnimmt und uns in der Nähe der Cimetière de Plainpalais absetzt.

Borges Grab in der Cimetière des Rois
Borges' Grab, Cimetière des Rois

Die Freude, am Ziel der Suche angekommen zu sein, überwiegt dann den trostlosen Anblick, den Borges‘ letzte Ruhestätte bietet. Die Kieselsteine, welche die Umrisse des Grabes ungefähr nachzeichnen, lassen unmittelbar die Erinnerung an die weit zurückliegende Lektüre von „Las ruinas circulares“ aufsteigen, jene Erzählung, in der Borges in seiner unnachahmlichen Weise das Thema des Zauberlehrlings mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz verband. Die Horde prähistorischer Gestalten, die sein Name und der Schriftzug „And ne forthtedon na“ auf dem Grabstein umfassen, lenken die Erinnerung zu den Troglodyten aus „El Inmortal“, dem wohl eigentümlichsten literarischen Denkmal Homers.


„And ne forthtedon na“ – „und fürchtet euch nicht“! Das Zitat aus dem altenglischen Gedicht „The Battle of Maldon“ zeigt eindeutig, dass hier ein argentinischer Schriftsteller liegt, dessen kulturelle Bindungen nur zu einem Teil in der lateinamerikanischen Kultur liegen, und zu einem erheblichen Teil in der angelsächsischen Welt zu suchen sind. Die spanische Sprache war Borges scheinbar – dies gilt verstärkt für sein erzählerisches Frühwerk – nur Vehikel für seine vielfältigen Auseinandersetzungen mit anderen Kulturen und den darin erkannten universellen Zusammenhängen.

Ein grundlegender Teil dieser Bindungen wurde in Genf angelegt, wo Borges von 1914-1919 mit seinen Eltern und Geschwistern lebte, um am renommierten Collège Calvin das Reifezeugnis zu erwerben. In diesen Jahren dachte der junge Borges wohl nicht einmal in seinen ansonsten recht kühnen Gedanken, dass er seine letzte Ruhestätte nur wenige Schritte vom Grab des Namensgebers seiner damaligen Schule finden würde. Doch damit nicht genug, in unmittelbarer Nähe befindet sich eines der jüngsten Gräber, jenes der Genfer Edelprostituierten Grisélidis Réal, um deren Beisetzung auf diesem ausschließlich Genfer Persönlichkeiten vorbehaltenen Friedhof ein Streit entbrannte, der Borges wohl entzückt hätte, da er selbst keine Bedenken hatte, sein Werk mit skurrilen Persönlichkeiten zu durchsetzen, die sich notfalls prostituieren, um den Tod Ihres Vaters zu rächen, denkt man etwa an „Emma Zunz“.

Die Synagoge von Plainpalais
Die Synagoge von Plainpalais

Die Vielfalt der Assoziationen, die der Besuch am Grab mit Borges Werk aufkommen lässt, zeigt, wie weitsichtig dieser die Fülle der menschlichen Widersprüche in seinem Werk miteinander verband und wie leicht sie einem selbst nach Jahrzehnten der Lektüre vor Augen fallen: verlässt man die „Cimetière des Rois“ an ihrem einzigen Zugang, fällt der Blick auf die im maurischen Stil gebaute Synagoge, die die Bögen der Mezquita von Córdoba zitiert. Das islamische Córdoba, welches Borges in „La busca de Averroes“ imaginierte, um in den schönsten Worten vom perspektivischen Gefangensein und der Natur des menschlichen Scheiterns zu sprechen.

Die Gedenktafel in der Grand' Rue 26
Die Gedenktafel in der Grand' Rue 26

Von hier ist es nur ein kurzer Fusslauf in die nahegelegene Altstadt, wo in der Grand-Rue 26 das Haus steht, in dem die Familie Borges während des ersten Weltkriegs lebte und von wo aus Borges Genf kennen und lieben lernte. Diese Liebe zu Genf war so nachhaltig, dass er nicht nur entschied, seine letzten Jahre dort zu verbringen, sondern von seiner Wahlheimat in den höchsten Tönen sprach: „De toutes les villes du monde, de toutes les patries intimes qu’un homme cherche à mériter au cours de ses voyages, Genève me semble la plus propice au bonheur“.

Dieses Zeugnis, das an der Aussenwand des Eckhauses nachzulesen ist, mag die Stadtregierung wohl auch dazu bewegt haben, ihm auf dem Prominentenfriedhof seine Ruhestätte zuzuweisen. Die besondere Beziehung von Borges und Genf erklärt auch, warum die Fondation Bodmer so viel daran setzte, nach dem Originalmanuskript von „El sur“ im vergangenen Jahr die Autographen von „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“ sowie zwei Essays über Joyce und Hesse für ihre einzigartige Sammlung zu erwerben. Besucht man die Fondation im Genfer Vorort Cologny, kann man in den Vitrinen der Dauerausstellung ein Exponat mit Borges‘ winziger und wohlgesetzter Handschrift bewundern.

Auf der dem See und der Rhône gegenübergelegenen Seite der Stadt wurde gleichzeitig eine kleine Strasse nach Borges benannt, die nicht weiter nennenswert ist, man gelangt allerdings mit der in ihrer Nähe vorbeiführenden Tram stadtauswärts zum CERN, dem Ort, von dem aus die letzten Geheimnisse der unmittelbar nach dem Urknall ihren Ursprung nehmenden Zeit erforscht werden sollen. Borges würde dieser Ort wohl wenig kümmern, da er konsequent einem zyklischen Zeitbegriff (denkt man etwa an die Gedichtsammlung „La noche ciclica“) den Vorzug gab und ihm womöglich seine Blindheit Zugang zu ganz anderen Geheimnissen verschaffte, hätte nicht der mittlerweile zum Sir geadelte Tim Berners-Lee drei Jahre nach Borges‘ Tod am CERN die Grundlage dafür legte, dass die „Biblioteca de Babel“ ihren virtuellen Nachfolger im World Wide Web fand.


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Der häufige Bezug zwischen Borges und dem Web als „Jardín de senderos que se bifurcan“ ist mehr als augenfällig und legitim, Legion sind die diesbezüglichen Interpretationen, Deutungen und Ausführungen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, zumal sie nicht das Problem beseitigen, das Borges zeitlebens hatte: zu viele Exegeten und zu wenige Leser. Die Verweise auf den Zusammenhang zwischen Borges und Web weisen in der Regel auf sein Frühwerk, wo Borges zwar in unverkannter Meisterschaft seine Motivkonstanten variiert, den Leser aber gleichzeitig trotz der Kürze seiner Erzählungen vor allerhöchste Ansprüche stellt.

Erst in seinem Spätwerk schien er sich eine gewisse Leichtigkeit und ein stärker lateinamerikanisch geprägtes Lokalkolorit zu erlauben, denkt man etwa an das „Evangélio según Marcos“, dessen geheimnisvolle Stimmung und wahnwitziges Ende einem allein in der Erinnerung noch den Atem verschlagen. Hier wies der Solitär Borges, der in schwierigen Zeiten die europäische Literatur in die südliche Hemisphäre rettete, seinen lateinamerikanischen Nachfolgern den Weg zum magischen Realismus, dessen Werke dann nicht nur Exegeten, sondern auch jene Lesermassen fanden, die Borges fehlten und die er vielleicht gewinnen könnte, wenn man ihn nicht ständig mit Bezug auf das Web, sondern aus reiner Freude an der Lektüre vom Spätwerk ausgehend lesen würde.


René Schneider René Schneider ist Professor für Informationswissenschaft an der Fachhochschule Genf. Während seines Studiums der Computerlinguistik und der Hispanistik an der Universität Trier beschäftigte er sich eingehend mit Leben und Werk Jorge Luis Borges’.

7 Gedanken zu „Jorge Luis Borges und Genf: Eine Spurensuche“

  1. Eine Frage zu Borges Wohnung in Genf:
    In diversen Borges-Biografien (u.a. zuletzt bei Williamson, 2004) steht zu lesen, dass die
    Familie Borges 1914 in die Rue Malagnou 17 (heute Rue Ferdinand Hodler 9) zog und dort bis 1918 blieb. Auch im Schulregister des Collège Calvin ist eindeutig die Rue Malagnou angegeben. (Die falsche Angabe von Borges Geburtsdatum an selber Stelle und die Gründe hierfür sind ja bekannt.)
    In die Grand Rue (Nr. 28!) zog Borges diesen Quellen zufolge erst wenige Wochen vor seinem Tod, nach dem Auszug aus dem Hotel L´Arbalète.

    Handelt es sich in Ihrem Text um einen Irrtum oder greifen Sie auf andere (neue?) Quellen zurück? Wenn ja, auf welche?

  2. Vielen Dank für Ihren Kommentar. Da scheint mir ganz offensichtlich ein Fehler unterlaufen zu sein, der aber für mich sehr plausibel ist, da ich mich während meiner Recherchen die ganze Zeit fragte, wo Borges denn in seinen letzten Lebensjahren gelebt hat.

    Bei meiner Aussage habe ich mich sowohl auf falsche mündlichen Aussagen gestützt (das Ehepaar, das uns von dem falschen Friedhof zum richtigen Friedhof schickte) als auch auf Internetquellen, die entweder diese falsche Information enthalten oder aus denen ich die falschen Schlüsse gezogen habe. Wie das mit Borges und der Flüchtigkeit der Information ist, habe ich allerdings etwas Mühe, diese Internetseiten wiederzufinden.

    Wenn ich es richtig sehe, sind Sie selbst schon vor einiger Zeit schon auf Borges Spuren gewandelt.
    Ich verweise von daher alle Blogleser zur Richtigstellung und weiteren Information auf Ihren Artikel zu diesem Thema, der die Informationslücke schliesst:
    Der Tote – zum 20. Todestag von J.L. Borges (2006)
    http://www.michael-helming.de/helming/index.php?option=com_content&task=view&id=157&Itemid=74

    Die Google-Karte passe ich dem neuen Informationsstand an.

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