Der spanische Autor Jesús Millán Muñoz reflektiert in seinem auf Culturamas veröffentlichten Essay Diarios literarios über die Entwicklung des Tagebuchs von einer alltäglichen Praxis zu einer vollwertigen literarischen Gattung. Seine zentrale These: Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass aus vermeintlich „niederen“ Genres bedeutende Werke des Wissens, der Introspection und der Ästhetik entstehen können.
Millán Muñoz zeichnet die historische Entwicklung des Tagebuchs nach – von den privaten Aufzeichnungen des 19. Jahrhunderts, die teilweise von Müttern als Instrument zur Überwachung der Gefühlswelt ihrer Töchter genutzt wurden, bis hin zu den literarisch-philosophischen Tagebüchern der Moderne. Dabei nennt er eine beeindruckende Liste von Autoren, die das Genre geprägt haben: von Anne Frank über Kafka, Pessoa und Virginia Woolf bis hin zu zeitgenössischen spanischen Schriftstellern wie Vila-Matas oder Chirbes.
Der Autor argumentiert, dass das Tagebuch als „kultureller Konstruktor“ fungiert – ein Werkzeug, das Menschen erfunden haben, um sich selbst und die Welt zu verstehen. Mit Verweis auf Picasso („Mein Tagebuch sind meine Bilder“) betont er, dass jede menschliche Schöpfung eine Mischung aus innerer und äußerer Welt darstellt.
Besonders bemerkenswert ist Millán Muñoz‘ Sorge um die Vergänglichkeit unzähliger privater Tagebücher, die nach dem Tod ihrer Verfasser verloren gehen. Er plädiert dafür, dass Bibliotheken und Archive die Möglichkeit bieten sollten, solche Dokumente für die Nachwelt zu bewahren – als wichtige Zeugnisse einer Zeit, die durch Kriege und Konzentrationslager geprägt war.
Ein lesenswerter Beitrag zur Diskussion über Gattungshierarchien und die Bedeutung vermeintlich „marginaler“ literarischer Formen in der Moderne.