Ein Gastbeitrag von Nicole Büsing und Heiko Klaas
Anfangs als spektakuläre Eventbude kritisiert, hat das Guggenheim Museum sich im baskenländischen Bilbao als Kulturinstitution etabliert und die Stadt nachhaltig verändert. In diesen Tagen feiert es seinen 20. Geburtstag – eine Ortsbesichtigung
Bilbao. Manche vergleichen es mit einem riesigen Reptil, das sich kurz zum Ausruhen ans Flussufer gelegt hat, andere mit einer entblätterten Artischocke. Und sein Architekt, der in den USA lebende Kanadier Frank O. Gehry, Jahrgang 1929, schließlich bemüht gern das Bild eines havarierten Schiffes, um die äußere Form des Guggenheim Museum Bilbao zu charakterisieren. Fest steht jedenfalls, dass der dekonstruktivistische Megabau mit seiner vielfach gekurvten Fassade aus Glas und schuppenartig übereinandergeschichteten Titanplatten am Ufer des Nervión Flusses in der baskenländischen Hafenstadt Bilbao zu den weltweit signifikantesten Neubauten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehört.
Eingeweiht am 18. Oktober 1997 durch den damaligen spanischen König Juan Carlos I. und einen Tag später fürs Publikum geöffnet, feiert das gigantische Museum mit seinen 11.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche in wenigen Tagen seinen 20. Geburtstag. Wer sich dem taufrisch wirkenden, metallisch schimmernden Gebäude an diesen – mit Temperaturen bis zu 30° C auch für das Baskenland ungewöhnlich warmen – Spätsommertagen nähert, bekommt zu spüren, dass der Bau auch nach zwei Jahrzehnten keineswegs an Attraktivität verloren hat. Besucher aus aller Welt stehen Schlange, um sich eine der vier aktuellen Wechselausstellungen anzusehen: Zur Wahl stehen eine große Retrospektive des US-amerikanischen Videokünstlers Bill Viola, eine umfassende Würdigung der deutsch-amerikanischen Textilkünstlerin Anni Albers (1899-1994), die Übernahme der Georg Baselitz Ausstellung „Helden“ aus dem Frankfurter Städel Museum und – in der etwas versteckten – Film- und Videogalerie, eine Präsentation der neuesten Arbeit von Ken Jacobs, einem eher Insidern bekannten experimentellen Filmemacher aus New York. Andere kommen nach Bilbao, um die hochkarätige Sammlung mit Meisterwerken von Andy Warhol, Richard Serra, Cy Twombly, Robert Rauschenberg, Jenny Holzer, Anselm Kiefer oder Gerhard Richter zu besichtigen. Wieder andere ohne spezifische Erwartungen. Sie genießen vielleicht einfach nur die spektakulären Terrassen und Aussichtsplattformen mit Außenskulpturen von Anish Kapoor, Louise Bourgeois, Jeff Koons oder aber die surreale Nebelinstallation der Japanerin Fujiko Nakaya, die die Außenhaut des Gebäudes zu jeder vollen Stunde kräftig unter Dampf setzt.
Rechtzeitig zum Jubiläum konnte im September auch der 20-millionste Besucher begrüßt werden. Das auf einer einst von verfallenen Docks, Kränen und Lagerhäusern beherrschten Fläche errichtete Haus blickt auf mittlerweile 97 Wechselausstellungen und 70 Sammlungspräsentationen zurück.
Für Juan Ignacio Vidarte, der das Museum von Anfang an als Direktor leitet, ist das Jubiläum aber auch ein Grund zurückzublicken: „Am Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre war die Stadt in einer Situation des Niedergangs. Viele der traditionellen Wirtschaftszweige waren dabei, auseinander zu brechen, also war die Stadt bemüht, einen Plan zu entwickeln, um auf diese Situation zu reagieren. Das Museum war Teil dieses Planes“. Und weiter: „Es wurde vor 20 Jahren mit dem Ziel gebaut, als Katalysator dieser Transformation zu dienen.“ Tatsächlich befand sich die Stadt damals in einer der schwersten Krisen ihrer Existenz. Werften, holzverarbeitende Industrie und andere Betriebe der Hafenwirtschaft, bis dahin die Garanten des Wohlstands, konnten dem Druck der asiatischen Billigkonkurrenz nicht mehr standhalten. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf über 25 Prozent, die aufgestaute Wut entlud sich regelmäßig in sozialen Unruhen und brennenden Barrikaden.
Zeitgleich suchte die New Yorker Solomon R. Guggenheim Foundation nach einem geeigneten Standort für eine europäische Dependance. Der baskenländischen Regionalregierung gelang es, sich erfolgreich zu bewerben. Der ursprünglich ins Auge gefasste Plan, das europäische Guggenheim in Salzburg zu realisieren, war dort kurz zuvor an lokalpolitischen Querelen gescheitert.
Der Rest ist unter dem Label „Bilbao-Effekt“ bereits in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen: Schon drei Jahre nach seiner Eröffnung hatte das Museum seine Baukosten bereits wieder eingespielt. Die Steuereinnahmen sprudeln bis heute. Rund 5.000 Jobs, nicht nur im Museum selbst, sondern in Hotellerie, Gastronomie, Transport und anderen Branchen sind dauerhaft neu entstanden.
Das Rezept scheint einfach: Man nehme eine wirtschaftlich darniederliegende Stadt und werte diese durch eine spektakuläre Architekturikone auf, die Besucher werden schon kommen. Dass das jedoch andernorts nie wieder in diesem Ausmaß funktioniert hat, liegt vielleicht an den Spezifika, die Bilbao und das dortige Guggenheim Museum auszeichnen. Bereits 1995 nahm die von Sir Norman Foster entworfene neue U-Bahn ihren Betrieb auf. Und seit der Eröffnung des Museums hat die Stadt ihre architektonische Erneuerung „la transmutación“ weiter mit Volldampf vorangetrieben und dabei konsequent auf Architekten von Weltrang gesetzt: eine neue Universitätsbibliothek von Rafael Moneo, der Neubau des Flughafens und eine spektakuläre Fußgängerbrücke über den Fluss von Santiago Calatrava, ein Hochhausensemble von Arata Isozaki und das bislang höchste Gebäude des Baskenlandes, das an ein aufgeblähtes Schiffssegel erinnernde Hochhaus des Iberdrola-Konzerns vom argentinisch-amerikanischen Architekten César Pelli, dem Erbauer der Petronas Towers in Kuala Lumpur. Dazu weitere Brücken, Platzgestaltungen, die Revitalisierung der Altstadt und die Instandsetzung und Pflege bedeutender Bauten des Jugendstil und der Moderne. Bilbao ist mittlerweile für Architekturinteressierte aus aller Welt zum Anlaufpunkt geworden. Das industrielle Erbe scheint vergessen. Der Fluss, einst zur ungeliebten Kloake verkommen, ist nun wieder die Lebensader der Stadt. Ein hypermodernes, mehrfach prämiertes Kongresszentrum und die gehobene bis avantgardistische baskische Küche locken weitere Besucher nach Bilbao. Allein das Guggenheim Museum beziffert den Anteil ausländischer Besucher mit 62,87 Prozent. Die weitaus meisten davon kommen aus Frankreich, den USA, Deutschland, Italien und Großbritannien.
Doch wohin steuert das Museum in den nächsten 20 Jahren? Dazu noch einmal Guggenheim-Direktor Vidarte: „Ich kann natürlich nicht so weit in die Zukunft schauen. Ich hoffe jedoch, dass wir dann eine ähnliche kulturelle und gesellschaftliche Relevanz haben wie heute. Und dafür muss sich unser Haus ständig neu erfinden und offen sein für die sich ändernden Erwartungen der Besucher. Ich denke, dass auch in 20 Jahren die meisten unserer heutigen Programmleitlinien noch von Bedeutung sein werden. Auch in 20 Jahren wird das Publikum sicherlich noch das gleiche Bedürfnis haben, sich mit Kunst auseinanderzusetzen wie heute. Aber in 20 Jahren müssen sich Institutionen natürlich auch weiterentwickeln zu einer Art hybriden Vision ihrer selbst. Es werden dann nicht nur die physischen Erfahrungen, sondern verstärkt auch die digitalen Erfahrungen im Vordergrund stehen. In 20 Jahren werden wir auch über eine viel bessere und optimierte Technologie verfügen, um diese Erfahrungen zu vermitteln. Prozessuale und interaktive Formen der Auseinandersetzung mit Kunst werden dann sicherlich eine größere Rolle spielen. Womöglich werden aber auch die Aspekte Landschaft und Natur stärker in die Wahrnehmung rücken als heute. Es wird bestimmt viel Neues geben, aber ich bin mir auch sicher, dass vieles aus der Vergangenheit auch dann weiterhin von Relevanz sein wird.“
Auch wenn der eigentliche Jahrestag der Eröffnung erst auf den 19. Oktober fällt, so wurde doch bereits in der vergangenen Woche kräftig gefeiert. Und zwar mit einer von Musik untermalten 20-minütigen 3D-Lichtshow der Londoner Projektionskünstler „59 Productions“. Deren spektakuläre Produktion „Reflections“ verwandelte die Fassade des Museums an insgesamt vier Abenden in eine gigantische Leinwand, auf der sich historische Ansichten des einstigen Hafengebiets mit animierten Kunstwerken aus der Sammlung des Hauses und fantasievollen Transformationen des Gebäudes zu einem dynamischen Allover mischten. Rund 200.000 Zuschauer besuchten das Event, das Juan Ignacio Vidarte ausdrücklich als Geschenk des Museums an die Bewohner der Stadt Bilbao verstanden wissen will: „Es war uns sehr wichtig, einen ganz besonderen Anlass zu schaffen, um unseren Geburtstag mit denjenigen zu feiern, die uns am nächsten sind: Den Bürgern der Stadt, denen wir so viel zu verdanken haben. Indem wir alle zusammen gearbeitet haben, haben wir einen außergewöhnlichen Wandel ermöglicht, der der ganzen Welt die Botschaft vermittelt, dass man mit Kunst alles verändern kann.“
Aktuelle Ausstellungen:
- Bill Viola – A Retrospective (bis 9. November 2017)
- Georg Baselitz – The Heros (bis 22. Oktober 2017)
- Anni Albers – Touching Vision (bis 14. Januar 2018)
- Ken Jacobs – The Guests bis (27. November 2017)
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Nicole Büsing und Heiko Klaas sind seit 1997 als freie Kunstjournalisten und Kritiker für zahlreiche Magazine, Tageszeitungen und Online-Magazine tätig. Daneben schreiben sie auch Katalogbeiträge. Sie gehören zum Autorenteam des BMW Art Guides, der im Hatje Cantz Verlag erscheint. Sie leben in Hamburg und Berlin.
Regelmäßige Veröffentlichungen über Kunst und Kunstmarkt z.B. in Monopol, Artmapp, Hatjecantz.de, Artist, Weltkunst, Stadtflair, Spiegel online, DARE, Kunstmarkt.com, Kultur & Gespenster, Photonews, Kunsttermine, Zeitkunst, Der Kunsthandel, Next Level, Art, Die Welt, Der Tagesspiegel, Szene Hamburg, Berliner Morgenpost, Paris Berlin Mag, Argentinisches Tageblatt, diverse regionale Tageszeitungen wie Kieler Nachrichten, Weser-Kurier, Neue Osnabrücker Zeitung, Saarbrücker Zeitung, Südkurier, Nürnberger Nachrichten, Flensburger Tageblatt, Freie Presse etc.