(Miguel Delibes, im November 2007. Foto: Wikipedia)
Hans-Jörg Neuschäfer: Nachruf auf Miguel Delibes
Am Morgen des 12. März ist Miguel Delibes, Ehrendoktor der Universität des Saarlandes, in Valladolid gestorben. Er wurde 89 und war unbestritten der Grand Seigneur der spanischen Literatur. Dies nicht obwohl, sondern gerade weil er äußerst bescheiden blieb und weil er sich dem Medienrummel hartnäckig entzog. Keines seiner Bücher stand jemals auf der Liste der schnelllebigen Bestseller, aber fast alle haben auf die Dauer hohe Auflagen erreicht und wurden und werden in der gesamten spanischsprachigen Welt millionenfach gelesen – auch ohne die heute üblichen Werbetricks, die Delibes sich ausdrücklich verbeten hat. Mehrere Titel liegen auch in deutscher Übersetzung vor.
Bekanntgeworden ist Delibes vor allem als Romancier. Schon in jungen Jahren (1947) gewann er den damals noch hoch angesehenen Premio Nadal (mit „La sombra del ciprés es alargada“). Er hat später eingestanden, dass er, um das Preiskomité zu beeindrucken, gelegentlich ein Synonymenwörterbuch zu Rate zog, um einfache Wörter durch kompliziertere zu ersetzen. Später kamen die beiden anderen großen Literaturpreise der spanischsprachigen Welt hinzu: der Principe de Asturias- und der Cervantespreis. Den umstrittenen Premio Planeta, den höchstdotierten, hat er abgelehnt. Inzwischen hatte er längst seinen eigenen Stil gefunden: mit möglichst wenigen und möglichst einfachen Wörtern ein Maximum an Wirkung zu erzielen.
Fast alle seine Romane spielen in Kastilien und verleihen mit Vorliebe jenen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden: den Benachteiligten, den Kindern, den Alten und den Ausgegrenzten. Am bekanntesten sind „El camino“ (1950; unmöglicher deutscher Titel: „Und zur Erinnerung Sommersprossen“), ein Jugendroman, den praktisch alle spanischen Schüler gelesen haben, und „Los Santos inocentes“ (1981; dt. „Die Heiligen Narren“), eine packende Darstellung der sozialen Ungleichheit im Spanien der Francozeit.
Immer gelingt es Delibes,, sich sprachlich der Mentalität seiner Personen so weit anzunähern, dass man sie wirklich sprechen hört. Zu Recht hat man ihn als die Stimme Kastiliens bezeichnet, denn nirgends wird das Idiom, auf dem die Weltsprache Spanisch beruht, so authentisch gesprochen wie in seinen Texten. Fast alle Grammatiken des modernen Spanisch bedienen sich für ihre Beispiele mit Vorliebe bei ihm.
Längere Zeit war Delibes auch Chefredakteur der Zeitung „El Norte de Castilla“, bis ihn der Dauerstreit mit der franquistischen Zensur zur Aufgabe zwang. Er war konservativ und er war bekennender Christ, aber er war auch ein Liberaler im besten Sinne des Wortes. Wie mutig er sich der Diktatur entgegenstellte, kann man dem öffentlichen Tagebuch entnehmen, das über das ganze Jahr 1972 allwöchentlich in einem vielgelesenen spanischen Magazin erschien. Und die katholische Kirche hat er mit der Vergangenheitsbewältigung konfrontiert: In seinem letzten (diesmal historischen) Roman „El hereje“ (1998; dt. „Der Ketzer“) erzählt er die Geschichte eines der großen Inquisitionsprozesse, mit denen im 16. Jahrhundert dem auch in Spanien aufblühenden Protestantismus ein grausiges Ende bereitet wurde. Unvergessen ist auch „Cinco horas con Mario“ (1966) (dt. „Fünf Stunden mit Mario“), eine tragikomische Ehegeschichte, in der die Denkweise des Franquismus so raffiniert desavouiert wurde, dass die Zensur es nicht merkte (oder nicht merken wollte).
1973 wurde Delibes in die königlich- spanische Akademie aufgenommen, in der damals noch überwiegend alte Männer saßen. Das hat sich inzwischen geändert. Delibes war – mit damals 42 – einer der ersten, die frischen Wind in das altehrwürdige Gebäude hinter dem Prado brachten. Seine Antrittsrede mit dem ganz unakademischen Titel „Un mundo que agoniza“ brachte in Spanien zum ersten Mal den Gedanken des Umweltschutzes und des oekologischen Wirtschaftens in Umlauf.
Delibes war ein Familienmensch. Er sprach gern von seinem „familión“ Seine 4 Söhne und drei Töchter begleiteten ihn 1990 zur Doktorfeier in Saarbrücken und machten sie zu einer der vergnügtesten, die jemals hier stattgefunden haben. Sie alle haben ihn auch bei seinem letzten Gang begleitet. Seine Frau Angeles hatte er schon früh verloren. Sie erlag, wie er jetzt selbst, einem Krebsleiden.
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Dieser Artikel von Prof. Neuschäfer erscheint mit freundlicher Genehmigung der Saarbrücker Zeitung, wo der Nachruf unter der Überschrift »Der den Ausgegrenzten eine Stimme gab« am 13. März 2010 im Kulturteil auf Seite B4 als Erstveröffentlichung erschienen ist. Der Nachruf wurde in der Saarbrücker Zeitung mit folgenden Worten eingeleitet:
Spanien trauert um einen seiner bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller: Miguel Delibes, einer der Hauptvertreter des sozialen Realismus, starb am Freitag mit 89 Jahren nach langer schwerer Krankheit im spanischen Valladolid. Der vielfach Preisgekrönte erhielt 1990 die Ehrendoktorwürde der Universität des Saarlandes. Ein Nachruf von Hans-Jörg Neuschäfer, emeritierter Romanistik-Professor der Saar-Uni.
4 Gedanken zu „Nachruf auf Miguel Delibes – Der den Ausgegrenzten eine Stimme gab“